Amazon – Günstig um jeden Preis

wieder mal nicht rechtzeitig um Papas Geburtstagsgeschenk gekümmert habe, rede ich mir ein, dass es ein Notfall ist und bestelle erleichtert ein Buch, das noch am nächsten Tag ankommt. Den Adapter, den ich für mein Handy brauche, bestelle ich gleich mit – unnötig dafür extra loszugehen und außerdem gibt es ihn bei Amazon mit Abstand am günstigsten.

Damit meine Bequemlichkeit es in Zukunft schwerer hat, habe ich mir noch einmal vor Augen geführt, welche Welt ich durch jede Amazon-Bestellung mitfinanziere: 

Weltschmerz

Die letzten Wochen waren wieder heftig. Genau genommen passieren ja leider jede Woche unglaublich schreckliche Dinge weltweit, doch ab und zu ergreifen uns die Geschehnisse eben besonders. Dann gehen Bilder um die Welt und das Schicksal betroffener Menschen geht uns nah. Da gucken wir Nachrichten, fühlen uns hilflos, weinen vielleicht. Da sind wir verständnislos dafür, wie wir in unserer heilen Bubble nahezu ungestört leben können, wenn außerhalb alles zerfällt.

Da müsste Musik sein

Ich gehe an einem Mann mit langen Rastas vorbei, der allein auf einer Bank sitzt. Vor sich eine riesige JBL Box. Lauter Raggae tönt mir entgegen. Ein breites Lächeln im Gesicht. Als nächstes eine Gruppe Jugendlicher, die ihre Musik direkt vom Handy spielt. Das, was mir dort in schrecklicher Ton-Qualität entgegenscheppert, klingt verdächtig nach Deutsch-Rap. Wenige Meter weiter eine Bar, die einen meiner Lieblingstracks von Klangkarussel spielt. „Dancin‘ to the sun“ in Endlosschleife. „Da müsste Musik sein!“, denke ich. Nicht nur abends am Kanal, sondern auch in den Unis und Bürogebäuden dieser Stadt. Noch eine Woche zuvor war ich auf den Kanaren im Urlaub gewesen. Dort konnte ich kaum einen Schritt gehen, ohne dass mich rhythmischer Reggaeton aus großen, kleinen, lauten oder leisen Boxen verfolgte.

Support von Außen

Pride Month ist vorbei und mein Nachbar von Gegenüber hat allen Ernstes die Regenbogenfahne an seinem Balkon wieder gegen die seines Lieblingsfußballvereins eingetauscht. Naja, das war immer noch besser als nichts, denke ich mir.

Ich bin eine weiße, heterosexuelle Cis-Frau aus einem finanziell stabilen Akademiker*innen-Haushalt. Keine Einschränkungen. Keine Erkrankungen. Die Liste meiner Privilegien zieht sich vielleicht nicht ins Unendliche, aber die paar Steine auf meinem Weg sind definitiv eher Kiesel als Felsen.

Zeit zu beichten

Mit einer Sünde ist zwar ursprünglich eine Handlung gemeint, mit der man gegen ein religiöses Gebot verstößt, doch wir haben den Begriff auch in unsere Alltagssprache übernommen. „Es ist eigentlich eine Sünde, Fast Fashion zu kaufen“, aber trotzdem laufen wir glücklich mit vollen Tüten aus Läden, deren Name aus zwei Buchstaben und einem & besteht. Obwohl ich weiß, dass Menschen unter den grauenvollsten Arbeitsbedingungen für einen Hungerlohn mein neues Shirt genäht haben, konnte ich nicht widerstehen. Ich hatte schließlich noch keins in dem Farbton. Was bleibt, ist das schlechte Gewissen.

Menschen haben seit Anbeginn der Zeit gelogen, betrogen, gestohlen. Doch ich glaube, wir sündigen heute so viel wie nie zuvor.

Selfcare is(n’t) selfish?

Spätestens seit dem Lockdown hat der Selfcare-Hype auch die Letzten erreicht. Selfcare war quasi das Traveln der Pandemie-Zeit: Yoga. Meditieren. Mindfulness. Me-Time. Alles getreu dem Motto „Focus on yourself“. Ich frage mich manchmal, ob unsere Generation nicht ohnehin schon selbstzentriert genug denkt und vor lauter Selfcare das Füreinander etwas kurz kommt…

Anti-Produktivitätswahn

Im ersten Lockdown gingen gefühlt gleichzeitig mit den Corona-Fällen die Anzahl der Motivations-Posts in die Höhe. „Jetzt hast du die Zeit, deine Projekte zu verwirklichen und all das zu tun, was du vorher nie geschafft hast.“ Blabla. Ah okay, das war jetzt das Jahr, in dem ich mich verwirklichen sollte? Schade, hat leider nicht so wirklich funktioniert. Der Roman, den ich seitdem schreiben will, ist noch nicht länger als eine Seite. Der Produktivitätswahn hat bei mir nichts anderes ausgelöst als Druck.

Mücken und Starrer

23 Grad und Sonne. Das perfekte Wetter, um Laptop und Uni-Bücher mal wieder in den Park mitzunehmen. Nach Monaten, in denen ich größtenteils meine eigenen vier Wände angestarrt habe, genieße ich es draußen zu sein, ein bisschen Wind abzubekommen und ein paar Menschen um mich zu haben. Ganze 5 Minuten fühle ich mich entspannt und zufrieden – bis der Mann ein paar Meter weiter dann anfängt Fotos zu machen. Von mir.

Radikalisiert euch!

Bei diesem Ausruf erscheinen vor meinem inneren Auge steineschmeißende Demonstrant*innen, Bengalos oder gar Salafist*innen mit Sprengstoffgürtel. Doch wenn ich hier von „radikalisieren“ rede, dann meine ich etwas anderes: Radikal kommt von radix aus dem Lateinischen. Das bedeutet Wurzel. Man kann „radikal“ nicht nur mit „rücksichtslos“ , sondern auch „vollständig“ oder „gründlich“ übersetzen. Von diesem Wortursprung ausgehend, ist eine radikale Position also eine, die ein Problem von Grund auf betrachtet. Es von der Wurzel aus angeht. Also erneut: „Radikalisiert euch!“

Schmale Auswahl

Der mit Abstand anspruchsloseste Job, in dem ich je gearbeitet habe, war als Passform-Model. Knappe 3 Wochen lang wurden an meinem Körper Schnitte einzelner Kleidungsstücke der Größe 36 angepasst, während ich dafür bezahlt wurde, dazustehen und meine Arme von mir zu strecken. Nach einiger Zeit wunderte ich mich, wann denn die Passform-Models für alle anderen Größen kommen würden. Sie kamen nicht. Es gab sie gar nicht. „36 ist die Norm und alles darüber machen wir eben größer. Da wird nix angepasst“, sagte eine Kollegin.